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"Ich hoffe, ich habe Tuchel damit nicht überfordert"

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"Ich hoffe, ich habe Tuchel damit nicht überfordert"

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„Hoffe, ich habe Tuchel nicht überfordert“

Torsten Lieberknecht spricht im exklusiven SPORT1-Interview über den Abstiegskampf mit Darmstadt 98. Zum VAR hat der Lilien-Coach ebenso eine klare Meinung wie zur Fan-Szene - und einem Bayern-Star.
Darmstadt 98 verliert 2:5 gegen den FC-Bayern. Coach Thorsten Lieberknecht beschwört bereits höhere Mächte herauf.
Reinhard Franke
Reinhard Franke

Torsten Lieberknecht steht mit Schlusslicht Darmstadt 98 vor den Wochen der Wahrheit. In drei der nächsten vier Spiele geht es gegen direkte Konkurrenten im Abstiegskampf: den VfL Bochum, Mainz 05 und den 1. FC Köln. Der Trainer der Lilien hat die Hoffnung auf die Rettung in der Bundesliga noch nicht aufgegeben - zumindest über die Relegation.

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Lieberknecht, der auch bei einem Abstieg bleibt, zeigt sich im Exklusiv-Interview mit SPORT1 locker und entspannt - auch, weil die privaten Sorgen weniger geworden sind. Seine Frau Simone hatte im vergangenen November einen Schlaganfall, ist jedoch wieder genesen. „Sie hat sich gut erholt, alles hat sich positiv entwickelt. Zum Glück ist sie wieder die alte und fühlt sich wie vor dem Schlaganfall“, sagt Lieberknecht.

Der 50 Jahre alte Pfälzer spricht zudem über den Wirbel mit einem Lilien-Ultra, aber auch über die Bayern und dessen Jungstar Jamal Musiala.

SPORT1: Herr Lieberknecht, immer wieder gibt es Diskussionen um den VAR. Werden Sie von den beiden VAR-Entscheidungen im Spiel gegen Bremen immer noch verfolgt?

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Torsten Lieberknecht: Ich persönlich nicht, aber ich hatte damals meine Meinung, und ich habe sie auch danach klar im Kopf behalten, wohl wissend, dass es diese Regel gibt. Trotz der Regel hat jeder ungläubig geschaut; das hat man auch in der Diskussion gemerkt. Der Siegtreffer in der Nachspielzeit wäre ein unglaublicher Moment gewesen. Jetzt hoffen wir in Bochum auf den „Game-Changer“, wie es so schön neudeutsch heißt.

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SPORT1: Sind Sie ein Freund vom VAR?

Lieberknecht: Ich bin eher der traditionelle Fußballromantiker. Die Diskussion über einen Videobeweis begann so richtig wegen des Phantomtors von Stefan Kießling damals. Was jetzt damit gemacht wird, erscheint mir zu pompös. Es wäre besser, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die Eingriffsmöglichkeiten zu reduzieren. Oft sieht man auch an den Reaktionen des Gegners, ob sie vehement dagegen protestieren oder ob die Spieler überhaupt nicht damit rechnen, dass noch etwas passieren wird. Man sollte diese Dimension des VAR etwas herunterschrauben. Das hilft allen.

SPORT1: Nach dem 0:6 gegen den FC Augsburg zu Hause gab es den Vorfall mit einem Lilien-Ultra, der die Mannschaft in den Senkel stellte, was für unterschiedliche Reaktionen gesorgt hat. Wie bewerten Sie das im Nachhinein?

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Lieberknecht: Die Vereine versuchen, Fanpflege zu gewährleisten, und das ist bei uns in Darmstadt zu 1000 Prozent der Fall. In dieser kleinen Stadt kennt jeder jeden, und die Fanbindung ist sehr stark. Vor dem Derby gegen Eintracht Frankfurt hatten wir bereits ein Treffen mit ihm und weiteren Vertretern der Ultras. Dort konnte ich ihn kennenlernen und habe ihn als emotionalen Typen wahrgenommen, der gleichzeitig ein sehr gutes Gespür für den Verein und die Situation besitzt. Und eins ist mir ganz wichtig…

Fan-Kultur in Deutschland anders als in England

SPORT1: Was denn?

Lieberknecht: Es war nie unter der Gürtellinie, was er gesagt hat. Natürlich war das für ihn ein spezieller Moment - er konnte vor 15.000 Zuschauern, der gesamten Mannschaft und dem Cheftrainer sprechen. Und vielleicht stand seine Außenwirkung dabei nicht immer im Einklang mit den Botschaften, die er uns gesendet hat. Daraus kann er für die Zukunft lernen. So wie wir als Mannschaft stetig lernen können. Übrigens ist die Fan-Kultur bei uns anders als in England.

SPORT1: Wie meinen Sie das?

Lieberknecht: In England gibt es kaum eine Mannschaft, die ihre eigenen Fans mit einer Stadionrunde verabschiedet. Bei uns hat sich diese Fan-Kultur glücklicherweise anders entwickelt. Die Nähe zu den Anhängern ist extrem ausgeprägt. Es sollte jedoch eine Grenze geben. Das bedeutet, dass alles verbal bleiben muss, nicht unter die Gürtellinie gehen darf und keine schlimmeren Vorfälle passieren dürfen. Verein und Fans sind nach dem Augsburg-Spiel in einen sehr guten und offenen Austausch getreten und haben alles sauber aufgearbeitet. Auch das spricht für den Fußballstandort Darmstadt 98.

Darmstadt 98 kassiert im wichtigen Heimspiel gegen den FC Augsburg eine desolate 0:6-KLatsche. Nach dem Spiel knüpft sich ein Ultra die Mannschaft vor und hält eine emotionale Rede.
01:28
Nach 0:6-Klatsche: Ultra mit flammender Standpauke für Darmstadt-Profis

SPORT1: Wie denken Sie generell über Ultras?

Lieberknecht: Die Ultras gehören zum Fußball. Im Stadion gibt es so viele Fangruppen; es ist ein Schmelztiegel der Gesellschaft. Wichtig ist, dass alles, was man tut, im Einklang mit guter Kommunikation steht. Ultras leben für den Verein und sorgen in den Stadien für eine tolle Stimmung, aber es gibt sicherlich auch mal Aktionen, die diskussionswürdig sind. Wir werden es jedoch nicht schaffen, alles unter einen Hut zu bringen, wenn wir nicht miteinander reden. Ganz wichtig ist immer: Es gibt bestimmte Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.

SPORT1: Haben Ultras inzwischen zu viel Macht? Beim VfB Stuttgart wollen sie in politische Entscheidungen des Klubs eingreifen und der Investoren-Deal ist auch geplatzt.

Lieberknecht: Das Investoren-Thema kann nicht nur auf die Ultras reduziert werden. Es geht hier auch nicht um Macht, sondern um Kommunikation. Das betone ich gerne noch einmal.

„Mussten Reaktion gegenüber den Fans zeigen“

SPORT1: Die Lilien verlieren 2:5 gegen den FC Bayern - und doch scheint die Stimmung nicht am Boden zu sein. Der Zusammenhalt im Verein ist eine wichtige Grundlage im Kampf um den Relegationsplatz, oder?

Lieberknecht: Absolut. Grundsätzlich war das Ergebnis nicht gut. Es gab jedoch an dem Tag ein anderes Erlebnis, nämlich die Zusammenkunft mit den Fans nach den Erlebnissen beim Augsburg-Spiel, die für viele Diskussionen gesorgt hat. Wir mussten gegen die Bayern in Vorleistung treten. Wir haben uns da anders präsentiert, haben auch vor dem Spiel das ganze Stadion mitgenommen, indem wir sinnbildlich alle begrüßt haben. Hinterher gab es bei der Verabschiedung ein gutes Gefühl durch einen imaginären Handschlag. Das hat gut getan. Wir hatten nie das Gefühl, dass sich Fans und Mannschaft voneinander entfernt haben, aber wir mussten eine Reaktion zeigen, um den Zusammenhalt wieder komplett herzustellen.

SPORT1: Aber das Ergebnis kann Ihnen nicht gefallen haben.

Lieberknecht: Natürlich war ich mit dem 2:5 nicht zufrieden, aber man hat hinterher doch viele beseelte Leute getroffen. Die Leistung der Truppe war völlig in Ordnung. Zwei Tore, zwei Lattenschüsse - aber das befriedigt mich als Trainer sicher nicht. Die Fans vertrauen darauf, dass wir weiterhin eine Chance auf die Relegation haben. Denn nur darum geht es noch. Alles andere wäre eine überirdische Sensation.

SPORT1: Nach der Partie in Heidenheim saßen Sie alleine auf der Bank und sagten: „Ich würde gerne meine Jungs auch mal wieder glücklich sehen.“ Wie zermürbend ist es, dieses Gefühl nicht öfter zu haben?

„Werde mich nie an Niederlagen gewöhnen“

Lieberknecht: Es ist Teil meiner Trainergeschichte mit Teams in die Bundesliga aufzusteigen, die nicht unbedingt zu den Favoriten gehörten. Es wird einem immer gesagt, man soll die Bundesliga genießen. Aber ich habe schon damals in Braunschweig die Erfahrung gemacht, dass man sie nur selten genießen wirklich kann. Natürlich hegte ich vor der aktuellen Saison die Hoffnung und das Vertrauen, dass es auch mal anders laufen könnte. Das Wichtigste ist, dass ich aushalten kann und weiß, was auf mich zukommt. Ich möchte Menschen glücklich machen, das treibt mich an. Alle sollen Freude haben - meine Spieler, das Team, die Stadt. Es nagt an mir, wenn ich diese Freude nicht oft schenken kann, aber es gehört nun einmal zu meinem Job bei Darmstadt 98. Ich werde mich nie an Niederlagen gewöhnen, doch sie gehören bei so einem kleinen Verein in der Bundesliga leider mehr dazu als Siege. Natürlich muss ich mich auch selbst ab und zu wieder aufbauen, aber das kriege ich hin, weil ich viel Energie verspüre.

SPORT1: Sie möchten Freude schenken, das haben Sie mit Ihrer Familie kurz nach Kriegsbeginn getan. Da hatten Sie eine ukrainische Familie bei sich aufgenommen. Was ist aus ihr geworden und wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

Lieberknecht: Der Löwenanteil dieser Hilfsaktion liegt bei meiner Frau. Sie hat das alles hinbekommen. Diese Familie - zwei Schwestern mit ihren Kindern - wohnte sechs Monate bei uns, war Teil der Familie Lieberknecht und lebt inzwischen eigenständig in Nordrhein-Westfalen. Dort arbeiten sie, und die Kinder gehen zur Schule. Sie waren sehr dankbar für die Hilfe und haben trotzdem ihr eigenes Schicksal in die Hand genommen. Sie sind sehr gut integriert worden, obwohl sie gerne in ihre Heimat zurückkehren möchten.

SPORT1: Und was sagen Sie zur aktuellen Lage in der Ukraine?

Lieberknecht: Es ist eine sehr besorgniserregende Situation. Die Entwicklung der Weltpolitik bereitet Sorgen. Angesichts der aktuellen politischen Lage merkt man immer wieder schnell, dass es weltweit viel wichtigere Dinge als Fußball gibt.

SPORT: Finden Sie es eigentlich gut, dass bei Olympia die Athleten aus Russland und Weißrussland starten können?

Lieberknecht: Man sollte den Athleten die Möglichkeit geben, sich zu diesen Themen zu äußern. Alles andere können wir schwer beurteilen.

„Ich hoffe, ich habe Tuchel damit nicht überfordert“

SPORT1: Sie haben zuletzt nach dem 2:5 gegen die Bayern Jamal Musiala über den grünen Klee gelobt. Mit ihm halten sie sogar einen Gewinn des EM-Titels für möglich. Thomas Tuchel sagte daraufhin nur „Wow“. Was sagen Sie jetzt?

Lieberknecht: (lacht) Ich bin jetzt nach seinem tollen Spiel gegen Frankreich bestätigt worden. Vielleicht wäre ich für den FC Bayern oder die Nationalmannschaft der falsche Trainer, weil ich von meinen Spielern zu begeistert wäre. Ich habe das mit vollem Ernst gesagt. Es war eine große Freude, diesem jungen Spieler aus nächster Nähe zuschauen zu können. Es war auch ein genialer Schachzug, Toni Kroos zurückzuholen. Ich traue der deutschen Mannschaft den EM-Titel zu, weil Musiala und viele andere einfach diese fußballerische Klasse haben. Das ist eine Mischung aus großer Euphorie und ein wenig Fachwissen von meiner Seite. Ich hoffe, ich habe Tuchel damit nicht überfordert. Spaß beiseite: Ich bin sicher, dass er von seinen Spielern genauso überzeugt ist wie ich von Musiala. Aber es ist auch normal, dass er mit Blick auf den eigenen Spieler den Ball etwas flacher halten will.

Der krasse Außenseiter Darmstadt geht gegen den FC Bayern früh in Führung. Dann aber drehen die Münchner auf - allen voran die Super-Youngster Aleksandar Pavlovic und Jamal Musiala.
10:19
SV Darmstadt 98 - FC Bayern München (2:5): Tore & Highlights | Bundesliga

SPORT1: Kann beziehungsweise darf Julian Nagelsmann jetzt überhaupt noch groß rotieren oder sollte er genau so in Richtung EM gehen und inwiefern könnte ein Austausch von mehreren Spielern nicht vielleicht sogar ein Risiko für die keimende Euphorie sein?

Lieberknecht: Julian Nagelsmann hat bislang absolut richtige Entscheidungen getroffen und die beiden Testspiele haben auch gezeigt, dass er einen gewissen Stamm im Kopf hat. Er hat ja selbst schon gesagt, dass er nicht mehr allzu viel durchwechseln möchte, wenn alle Spieler gesund bleiben.

SPORT1: Die Lilien hatten enormes Verletzungspech, etwas hat sich das Lazarett gelichtet. Wie fühlen Sie sich vor den Wochen der Wahrheit mit Spielen gegen Bochum, Mainz und Köln?

Lieberknecht: Wir hatten zuletzt Spiele gegen Bayern, Leipzig, Leverkusen, Stuttgart oder gegen formstarke Bremer. Und der Blackout gegen Augsburg, der vieles verschwommen hat, was wir gut gemacht haben. Noch haben wir die Chance in der Liga zu bleiben. In der vergangenen Saison wären wir mit diesem Punktestand schon weg gewesen. Jetzt beginnen die Endspiel-Wochen. Ich vertraue auch auf das Quäntchen Glück für uns.

SPORT1: Sie bleiben auch bei Abstieg in Darmstadt. Besteht da nicht die Gefahr sich abzunutzen?

Lieberknecht: Nein, ich kann mich nur auf meine Trainergeschichte beziehen. Mit Eintracht Braunschweig bin ich auch abgestiegen und geblieben, und wir waren immer im Dunstkreis der Aufstiegskandidaten. Es wird kein Abnutzungsgefühl geben, weil ich auch keine Abnutzung zulasse. Ich stehe für Werte wie Kontinuität und habe mich bewusst dafür entschieden, langfristig mit dem Verein in Darmstadt zu arbeiten.

SPORT1: Wie sehr träumen Sie von einer Rückkehr zum FCK?

Lieberknecht: (lacht) Ich lasse schon immer alles auf mich zukommen, auch wenn es manchmal vielleicht gar nicht so gut ist, keinen Karriereplan zu haben. Mein Pfälzer Herz ist dem FCK sicher. Ganz aktuell bin ich aber sowieso überzeugt davon, dass Friedhelm den FCK in der Liga halten und dann auch am Betze bleiben wird. Auch, wenn er damit sein Wort brechen würde, nur bis Saisonende zu bleiben.