Für einen kurzen Augenblick fühlten sich zahlreiche Formel-1-Fans beim Qualifying in Istanbul an den traurigsten Formel-1-Moment der vergangenen 25 Jahre erinnert.
Chaos weckt schlimme Erinnerungen
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Die erste Qualifying-Session war wenige Augenblicke zuvor nach der Unterbrechung durch die Rote Flagge wieder fortgesetzt geworden, obwohl das Auto von Williams-Rookie Nicholas Latifi noch nicht vollständig aus dem Gefahrenbereich gebracht worden war. (Formel 1: Rennen zum Großen Preis der Türkei ab 11.10 Uhr im SPORT1-Liveticker)
Stattdessen fuhr ein Kran mit dem Williams noch durch das Kiesbett, während erste Wagen vorbeirasten, was vor allem Red-Bull-Pilot Alexander Albon wütend machte. "Das war dumm. Ich bin mir sicher, dass wir auch noch fünf Minuten hätten warten können, bis der Kran weg ist", schimpfte der Thailänder.
Bergungsfahrzeuge auf der Strecke sind spätestens seit dem Japan-Grand-Prix 2014 ein heikles Thema in der Königsklasse.
Erinnerungen an Bianchi - Albon sauer
Damals hatte Jules Bianchi unter doppelt geschwenkten gelben Flaggen die Kontrolle über sein Auto verloren und war in einen Kran gerutscht. Der Franzose starb neun Monate später an den Folgen seiner Kopfverletzungen.
Auch dieses Mal waren die Bedingungen zu diesem Zeitpunkt schwierig und die Fahrer hatten große Mühe, nicht von der Strecke abzufliegen. Dass die Rennleitung die Strecke trotzdem so zügig wieder freigegeben hatte, sorgt bei Albon für Unverständnis.
"Es ist schwer nachzuvollziehen, wo diese Entscheidung herkam. Der Kran war noch auf der Rennstrecke und hat Latifis Auto gehoben, und wir wurden rausgeschickt", sagte Albon: "Ich hätte erwartet, dass es ein Fünf-Minuten-Signal gibt. Aber es war nur eine Minute, dann wurde auf Grün geschaltet."
Der 24-Jährige glaubt nicht, dass sich die Rennleitung bei ihrer Entscheidung der Gefahr bewusst war, sondern einfach überstürzt gehandelt hatte: "Ich denke, da muss eine Fehleinschätzung vorgelegen haben, denn das haben sie auf keinen Fall absichtlich so gemacht."
Albon vermutet Zeitgründe bei Entscheidung
Albon vermutet, dass die Rennleitung diese gewagte Entscheidung aus Zeitgründen traf: "Ich denke, sie haben versucht es vor Sonnenuntergang über die Bühne zu bringen und haben dabei alles überstürzt."
Tatsächlich rückte die Dunkelheit rasch näher, da das Qualifying bereits vor dem Abflug von Latifi und Romain Grosjean für 45 Minuten unterbrochen worden war. Auf der Strecke hatte sich immer Wasser gebildet, bis sich alle paar Sekunden ein Pilot drehte.
"Wenn du in den sechsten Gang schaltest, selbst im siebten noch Schlupf hast und das Auto auf dem Aquaplaning gleitet, macht das keinen Spaß. Das war gefährlicher als alles andere", sagte Albon, der betonte, dass er an sich schwierige Bedingungen möge - doch das war "übertrieben gefährlich".
Sein Fazit des Qualifyings lautete deshalb: "Ich denke, wir hatten heute großes Glück, dass es keinen schlimmen Unfall gab. Wir hatten einige Schreckmomente am Eingang von Kurve drei."
Hamilton schimpft über Strecke
Doch nicht nur Albon ärgerte sich über die Bedingungen in Istanbul. Für Weltmeister Lewis Hamilton ist "das ganze Wochenende ein Albtraum", was nicht nur an Startplatz sechs liegt: "So einen schlechten Grip habe ich auf keiner Strecke erlebt. Das war eine Herausforderung."
Einzig Max Verstappen schien weitgehend wenig Mühe zu haben, aber auch der Niederländer leistete sich Dreher. "Hoffentlich regnet es nicht, dann fahren wir wirklich wie auf Eis. Vielleicht brauchen wir dann eher Spikes", hatte Verstappen bereits am Freitag geunkt.
Der Zustand der Strecke am Bosporus ist zweifelsohne dem eilig improvisierten Rennkalender der Formel 1 aufgrund der Corona-Pandemie geschuldet. Zuletzt hatte die Formel 1 dort 2011 Halt gemacht. Um in diesem Jahr einspringen zu können, haben die Organisatoren alle Hebel in Bewegung gesetzt.
So wurde eine komplett neue Asphaltschicht herangeschafft, die jedoch erst spät fertig wurde und bis zu diesem Wochenende nicht benutzt wurde. Die Oberfläche war deshalb ölig und spiegelglatt, Hamilton nannte den Streckenzustand sogar "Shit mit großen S".
Dass der Streckenbetreiber die Idee hatte, die neu asphaltierte Strecke am Freitagmorgen zu waschen, um die Schmierstoffe zu lösen, verschlimmerte alles nur noch. Und so waren beim 1. Freien Training zu Beginn vor allem Rallye-Fähigkeiten gefragt.
Streckenbetreiber behilft sich mit Mietwagen
Wie Motorsport-Total berichtete, wurden in der Nacht daraufhin Mietwagen besorgt, die drei Stunden lang über die Strecke fuhren, um den Grip zu erhöhen. Die gut gemeinte Idee, deren Wirkung offen war, wurde allerdings von den nassen Bedingungen am Samstag torpediert.
Dass kurz vor Beginn des Qualifyings auch noch ein Hund über die Rennstrecke lief, passte zu den teils chaotischen Bedingungen. Außer Safety-Car-Pilot Bernd Mayländer, der sein Tempo drosseln musste, war zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise aber kein Pilot auf der Strecke.
Streunende Hunde gab es in Istanbul schon häufiger, glücklicherweise endeten diese bisher immer ohne Zusammenstöße. Dennoch sollten die Organisatoren zum Schutz der Hunde und der Piloten ihre Zäune noch einmal genau überprüfen.
Schließlich hofft die Türkei nach wie vor auf ein langfristiges F1-Comeback, wenngleich sie im Rennkalender für 2021 zunächst nicht zu finden ist. Damit das realistisch wird, bleibt für die Organisatoren noch viel zu tun.