Kaum ein Sportereignis polarisiert derzeit so sehr wie die Handball-WM in Ägypten.
Ausnahmehandballer im späten Glück
Das Mega-Event mit Teams aus 32 Nationen schreibt aber nicht nur sportliche Schlagzeilen, vor allem das folgenschwere Corona-Chaos sorgt für viele Diskussionen. Wobei es auch Profiteure gibt - unter ihnen Andy Schmid.
Der Rückraumspieler der Rhein-Neckar-Löwen, der seit Jahren zur Weltspitze gehört, ist mit seinem Schweizer Nationalteam als Nachrücker unerwartet zum WM-Teilnehmer geworden. Mit 37 Jahren das erste Turnier dieser Art für den zweimaligen Deutschen Meister - ohne Vorbereitung und unter kuriosen Umständen.
Andy Schmid im unverhofften Glück
"Wir haben nicht damit gerechnet. Der Verband hat uns aber nach dem Kurztrainingslager am Samstag vor der WM gesagt, dass wir die nächsten drei, vier Tage isoliert leben sollen", erzählt Schmid im Gespräch mit SPORT1 (Die besten Torjäger der Handball-WM).
Die Isolation verbrachte der 37-Jährige dabei mit Ehefrau Therese. "Wir waren zu Hause, haben mit den eigenen Vereinen trainiert. Ich habe mit meiner Frau noch eine Flasche Wein getrunken, das hätte ich wohl auch nicht gemacht, wenn ich gewusst hätte, dass ich zwei Tage später das erste WM-Spiel spiele", so Schmid weiter.
Wohl auch deswegen war die Freude beim Rückraumspieler enorm groß: "Es war schon sehr überraschend, aber eine schöne Überraschung. Es hat sehr viele Gefühle ausgelöst. Wir sind happy, dass es so gekommen ist."
"Schlechter hätte eine Anreise nicht laufen können"
Die Reise zum Turnierort wurde für die Schweizer Auswahl dennoch zum Abenteuer: "Schlechter hätte eine Anreise nicht laufen können. Wir wurden direkt um 5 Uhr morgens in der Schweiz abgeholt, sind dann zum Flughafen. Durch das Schnee-Chaos sind wir erst verspätet losgeflogen und direkt vom Flugzeug in die Halle. Das Gepäck kam erst spät, eine Stunde vor dem Anwurf. Da war wenig Zeit, sich auf das Spiel vorzubereiten", erinnert sich Schmid (Spielplan & Ergebnisse der Handball WM).
Taktische Aspekte des Spiels traten deshalb in den Hintergrund. Viel mehr machten sich Schmid und seine Kollegen Sorgen, es nicht rechtzeitig zum Spiel zu schaffen.
"Wir im Nationalteam sind zwar keine Fremden, wissen, wie wir spielen und was wir für ein Konzept haben. Aber das Wasser war nicht kalt, das war eiskalt. Wir haben nicht gewusst, was uns erwartet", so der 37-Jährige.
Schweiz hat wertvollen Vorteil
Und der Sprung hat sich gelohnt: Die Schweizer Nationalmannschaft steht beim Turnier in Ägypten in der Hauptrunde und hat sogar Chancen auf den Einzug ins Viertelfinale. Eine Chance, die sich das Team um Schmid nicht entgehen lassen will.
"Wir wollen auf der Welle weiter reiten, auf der wir uns befinden, uns in den nächsten beiden Spielen nicht verstecken und weiter angreifen. Wir werden keinen Zentimeter zurückziehen. Die Akkus sind nicht gerade voll, aber wir werden nochmal alles in die Waagschale werfen, um zu punkten."
Dabei helfen kann ihnen die mentale Unbekümmertheit. Weil die Schweizer nicht mit einer Teilnahme gerechnet hatten, entfiel das wochenlange Grübeln über den möglichen Turnierverlauf.
"Wenn man sich keinen Kopf macht und befreiter spielen kann, läuft es meistens besser. Wir haben uns wahrscheinlich erst 40 Stunden vorher mit der WM befasst. Andere Mannschaften haben das schon Ende des Jahres gemacht. Diese Unbeschwertheit und Unbekümmertheit könnte schon ein Vorteil sein, da wir auch ein sehr junges Team haben - und gerade bei jungen Spielern spielt der Kopf meistens auch eine wichtige Rolle", ist sich der Profi sicher.
Verständnis für Absagen der deutschen Kollegen
Ohnehin fühlt sich der Löwen-Star in Ägypten wohl - trotz oder gerade wegen der vielen Corona-Auflagen: "Ich fühle mich hier sehr sicher. Es gibt keine Durchmischung der Mannschaften, jeder trägt eine Maske. Man geht einander aus dem Weg und wird täglich getestet. Ich fühle mich gut, ich fühle mich sicher."
Kritik an der Austragung des Turniers kann Schmid dennoch verstehen, auch er hat viel darüber nachgedacht: "Ich habe mir schon Gedanken im Vorhinein gemacht, wie ich entscheiden würde, wenn ich in der Situation der deutschen Nationalspieler wäre, weil ich mit Hendrik Pekeler einen sehr engen Austausch habe. Das ist von Person zu Person verschieden, das sind Entscheidungen, die man mit den Familien fällt und dann akzeptieren muss. Man hat nicht das Recht, sich darüber auszulassen, ob jemand mitmacht oder nicht. Das ist den Spielern und ihnen als Privatpersonen überlassen, ob sie sich dafür oder dagegen entscheiden."
Für sich selbst hat Schmid die Entscheidung gefällt, am Turnier teilzunehmen. Wenn auch mit einer gehörigen Portion Respekt. Die einmalige Chance auf eine WM-Teilnahme wollte sich der 37-Jährige dennoch nicht entgehen lassen.
"Es ist eine Diskussion, die die Leute spaltet", erklärt er: "Ich bin schon der Meinung, dass das Leben auch weitergehen muss. Der Sport ist Teil des Lebens, wir üben unseren Beruf aus. Es ist auch ein wichtiges Ereignis für die Sportart, im Januar haben wir immer diese Aufmerksamkeit. Wir sind froh und privilegiert, dass wir unseren Job ausüben können. Aber wir wissen auch um die Lage."
Kurzer Blick auf die Pyramiden
Selbige erlaubt deshalb auch keine großen Ausflüge im Gastgeberland. Ganz ohne einen Eindruck der ägyptischen Geschichte bekomen zu haben, müssen Schmid und seine Kollegen das Land aber dennoch nicht verlassen.
"Vor zwei Tagen hatten wir die Möglichkeit, kurz aus unserem Bus bei den Pyramiden auszusteigen", berichtet er: "Auch da wurde es akribisch abgeriegelt, niemand außerhalb der Blase war dann drin. Da hatten wir 15 Minuten, um ein bisschen Geschichte und Kultur einsaugen zu können. Ansonsten sind wir im Hotel, im Zimmer, im Essensraum und in der Halle."
Das touristische Erlebnis ist Schmid und Co. also nicht entgangen. Am heutigen Nachmittag sind sie gegen Portugal gefordert - und wollen dafür sorgen, dass sie weiterhin mehr als Touristen sind.