Roberto Mancini hätte Mario Balotelli fast schon am 25. Juli 2011 die Tür gezeigt.
Der Wandel des Mario Balotelli
Es lief die 30. Minute des Testspiels zwischen Manchester City und LA Galaxy, als Balotelli allein vor dem gegnerischen Tor auftauchte, zu einer Pirouette ansetzte und den Ball schließlich per Hacke drei Meter am Kasten vorbeimanövrierte. Ein bizarrer Anflug von Arroganz, der die Schaulustigen auf den Rängen erheiterte.
Mancini konnte darüber aber nicht lachen. Er tobte. Und wechselte seinen Angreifer sofort aus.
Balotelli behauptete im Nachhinein, er habe einen Abseitspfiff vernommen und deshalb auf einen ernsthaften Torabschluss verzichtet. Mancini aber kannte seinen Schützling damals schon zu gut. Er hatte ihm einst bei Inter Mailand im Alter von nur 16 Jahren zu seinem Serie-A-Debüt verholfen. Und er wusste ganz genau: "Mario macht manchmal unerklärliche Dinge." Unerklärlich unprofessionelle Dinge.
Balotellis Rettung damals: Er war erst 20 Jahre alt. Leichtsinnig, aber lernfähig. Daran glaubte zumindest sein Vorgesetzter. "Mario muss verstehen, dass er das Potential hat, einer der Besten der Welt zu werden. Sein Talent ist einmalig. Deshalb setze ich auf ihn", sagte Mancini.
Cassanos Bruder im Geiste
Er ahnte nicht, dass Balotelli sein blindes Vertrauen gnadenlos ausnutzen würde.
Der so hochgelobte wie hoch bezahlte Jungprofi schusterte in Rekordzeit ein buntes Sammelsurium an Skandalen zusammen. Mal prügelte er sich im Training mit Mannschaftskollegen, mal bewarf er Jugendspieler mit Dartpfeilen, mal fuhr er eines seiner sündhaft teuren Autos zu Schrott, mal flanierte an der Seite von Mafia-Bossen durch Neapels Drogenviertel.
Die denkwürdigste Episode seiner Eskapaden-Serie sollte sich jedoch am 22. Oktober 2011 ereignen: Er und vier Freunde setzten seine Villa in Brand, nachdem sie einen Feuerwerkskörper im Bad entzündet hatten.
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Für dieses Verhaltensmuster erfand die italienische Presse den Begriff "balotellata". Ein Synonym für "cassanata", für das ähnlich lebhafte Treiben eines weiteren bekannten italienischen Freigeistes: Antonio Cassano.
Mancini holt Balotelli zurück
Im Gegensatz zu Cassano verfiel Balotelli aber nicht dem Alkohol und Fast Food. Er war fit. Aber nicht ganz so fit wie faul. Das kostete dem "Enfant terrible" irgendwann auch die Anerkennung seines großen Fürsprechers. "Vielleicht kam sein Aufstieg zu früh", haderte Mancini, nachdem sich Balotelli im Januar 2013 grollend aus Manchester verabschiedet hatte.
Kaum einer hätte nach diesem Missverständnis daran geglaubt, dass Mancini und Balotelli noch einmal miteinander zusammenarbeiten würden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Und heute, etwas mehr als fünfeinhalb Jahre später, ist Mancini Italiens neuer Nationaltrainer und Balotelli Italiens neuer alter Mittelstürmer.
"Ich habe großen Respekt vor Mario. Er hat sich sehr gut entwickelt, das hat jeder gesehen. Und deswegen ist er bei uns", erklärte Mancini seine Entscheidung, den in Italien eher weniger beliebten Vollstrecker nach fast vier Jahren Abstinenz zurückbeordert zu haben.
Balotelli, seit 2016 beim französischen Erstligisten OGC Nizza unter Vertrag, ist für Mancini der Fixpunkt der neuen "Squadra Azzurra", die nach der kläglich verpassten WM-Qualifikation unter Gian Piero Ventura ihren Ruf aufpolieren und an alte Glanzzeiten anknüpfen will.
Reifer, ruhiger, besser
Er soll die mit vielen Nachwuchsspielern bestückte Mancini-Mannschaft in Zukunft sogar als Kapitän aufs Feld führen, wenn Leonardo Bonucci einmal fehlt. Der Sohn ghanaischer Einwanderer ist nämlich längst kein junger Hüpfer mehr. Er ist mittlerweile 28. Immer noch ein bisschen ausgeflippt, immer noch ein bisschen arrogant. Aber im Vergleich zu seiner Jugendzeit ein Engel.
Seine Tochter Pia (5) und sein Sohn Lion (11 Monate) ließen ihn reifer und ruhiger werden, während ihm das schöne Wetter an der Cote d'Azur nach seinen missratenen Abenteuern beim FC Liverpool und AC Mailand offensichtlich die Freude am Fußball zurückgab.
In den vergangenen zwei Spielzeiten erzielte er 43 Tore für Nizza - so viele für keinen anderen seiner bisherigen Vereine. Ausgerechnet der neue BVB-Coach Lucien Favre war es, der ihn vom verspotteten Selbstdarsteller zum geschätzten Leistungsträger formte.
Balotelli dachte nach Favres Abschied und der verpassten Qualifikation fürs internationale Geschäft deshalb auch an einen Wechsel - und fiel zwischenzeitlich in alte Muster.
Vieira redet Balotelli Wechsel aus
Er schwänzte ein Training, um seinen Wechsel zu Olympique Marseille zu forcieren. Anders als früher hörte Balotelli aber nicht nur auf seinen geldgierigen Berater Mino Raiola, sondern setzte sich mit Nizzas neuem Trainer Patrick Vieira an einen Tisch.
Das Ergebnis: "Er hat meine Meinung zu 80 Prozent geändert. Ich habe mit ihm gesprochen, mit dem Präsidenten und am Ende zu meinem Berater gesagt: 'Komm, lass uns noch ein Jahr bleiben."
Auch das spricht für den Reifeprozess, den Balotelli in den vergangenen Jahren durchlaufen hat. Er scheint endlich begriffen zu haben, dass Fußball ein Mannschaftssport ist.
Allerdings liegt zwischen Genie und Wahnsinn ein schmaler Grat. Wie schmal, das zeigt sich ja vielleicht heute Abend im ersten Spiel der Italiener in der Nations League gegen Polen (ab 20.45 Uhr im LIVETICKER), wenn Balotelli allein vor dem gegnerischen Tor auftaucht.
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