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Marseille-Krawalle: Die Versäumnisse vor dem England-Russland-Spiel

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Marseille-Krawalle: Die Versäumnisse vor dem England-Russland-Spiel

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Gewalt-Exzess bei EM: Das lief schief

Der eskalierten Gewalt um das England-Russland-Spiel gingen offensichtlich eine Reihe von Versäumnissen voraus. Fragen und Antworten zum Chaos in Marseille.
Auch nach dem EM-Gruppenspiel zwischen England und Russland kommt es in Marseille zu schweren Ausschreitungen. Behördenangaben zufolge waren französische, englische und russische Hooligans beteiligt.
von Martin Hoffmann, Matthias Becker

Wie fällt die Bilanz der Krawalle von Marseille aus?

Die seit Tagen schwelenden Krawalle in Marseille erreichten am Samstag ihren bitteren Höhepunkt: Vor dem EM-Spiel zwischen England und Russland (1:1) kam es am Alten Hafen zu schweren Ausschreitungen, nach Abpfiff der Partie stürmten russische Hooligans den englischen Fanblock und schlugen um sich, die Nacht zum Sonntag: ebenfalls unruhig.

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Nach Polizei-Angaben gab es 35 Verletzte, ein englischer Fan, der mit einer Eisenstange getroffen wurde, schwebt in Lebensgefahr - einer seiner Angreifer wurde später noch im Stadion gesichtet.

Es gab diverse Festnahmen, zehn Personen blieben über Nacht in Polizeigewahrsam, unter ihnen ein Deutscher und ein Österreicher. Nach Behörden-Angaben hatten Hooligans aller involvierten Länder ihren Anteil: englische, russische, französische.

Was lief schief?

Die Grundkonstellation des Spiels war eine heikle. "Als Marseille für dieses Spiel gezogen wurde, hat jeder tief durchgeatmet", berichtet Sicherheits-Experte Chris Hobbs dem Guardian: "Man hat die englischen Fans, die Russen, die Ultras aus Marseille" - eine explosive Mischung. Umso rätselhafter, dass bei diesem Hochrisikospiel offensichtlich nicht die bestmögliche Sicherheitsmaßnahmen eingeleitet wurden. Die Vorwürfe im Einzelnen:

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Unausgereiftes Sicherheitskonzept: Der Blocksturm im Stadion wurde den russischen Hooligans leicht gemacht. Es gab keine Blocktrennung, keine Pufferzone, keine Polizeikette. Die Ordner blieben dem Blocksturm hilflos ausgeliefert. Ein Kritikpunkt des russischen Sportministers Vitali Mutko: Es gab keine Fangnetze, um Pyro-Würfe aufzuhalten.

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Unzureichende Kontrollen: Böller und Feuerwerksraketen wurden am Ordnungspersonal vorbeigeschmuggelt, Zeugenberichten zufolge waren die Kontrollen nachlässig. "Ein Witz", zitiert Spiegel Online einen deutschen Fan, der nach eigener Aussage nur kurz an der Hüfte und der Jacke abgetastet wurde: "Bei jedem Bundesligaspiel werde ich strenger überprüft."

Polizei als Scharfmacher: An den Polizisten in Marseille wird ebenfalls von zahlreichen Betroffenen Kritik geübt. Mit übertriebenem Einsatz von Tränengas hätten sie in Marseille zur Eskalation beigetragen. Wie berechtigt die Vorwürfe im Einzelnen sind, ist schwer zu bewerten, gewiss ist: Frankreichs Polizei steht generell unter Anspannung, seit den Terroranschlägen von Paris und den darauffolgenden Maßnahmen ist die Arbeitsbelastung für Frankreichs Polizei deutlich gestiegen.

Kein Alkoholverbot: Ein Versäumnis, das der kommunalen Verwaltung Marseilles angelastet wird: Anders als in Lens wurde in Marseille trotz der heiklen Bedingungen kein Alkoholverbot erlassen. Dass Trunkenheit ein Faktor bei den Krawallen war, war für die Anwesenden offensichtlich.

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Welche Konsequenzen gibt es?

Auf die Festgenommen kommt ein Verfahren vor einem Schnellgericht zu, die Sicherheitsvorkehrungen für die kommenden Spiele werden derweil verschärft - besonders für die weiteren Hochrisikospiele, unter ihnen die Partie zwischen Deutschland und Polen.

Die UEFA hat Disziplinar-Ermittlungen gegen Russland eingeleitet - im Stadion, ihrem Zuständigkeitsbereich, standen die russischen Hooligans im Fokus. Der Blocksturm, die Pyro-Attacken, auch rassistische Affenlaute sind Thema. Unabhängig davon drohte das Exekutivkommitee des Verbands am Sonntagnachmittag sowohl Russland als auch England mit dem Turnierausschluss, sollte es weitere Vorfälle geben.

Ob es so weit kommt: eher fraglich, auch wenn speziell russische Fans einschlägig vorbelastet sind. Allein deshalb, weil es die Spannungen im EM-Land kaum entschärfen würde.

Übrigens: Lille und Lens, die nächsten Spielorte Russlands und Englands, liegen nur rund 35 Kilometer voneinander entfernt.

Wie rechtfertigen sich die Verantwortlichen?

Obwohl die Sicherheit schon im Vorfeld der EM das große Thema war, hielt sich die UEFA - abgesehen von der Ankündigung des Verfahrens - erstmal vornehm zurück. Die Zusammenstöße in Marseille und Nizza (sieben Verletzte vor dem Nordirland-Polen-Spiel) blieben auf ihren offiziellen Kanälen lange unerwähnt, am Sonntagnachmittag verurteilte das UEFA-Exko dann "das unakzeptable Verhalten der sogenannten Fans".

Ansonsten zeigen die offiziellen Stellen mit dem Finger in die jeweils andere Richtung. Russlands Minister Mutko kritisiert die schlechte Organisation in Marseille, Marseilles Bürgermeister Jean-Claude Gaudin wiederum fand sicherheitstechnisch alles "perfekt organisiert". Auch die UEFA drückte - wenngleich nur unkonkret - ihre "Unterstützung für die Arbeit der französischen Behörden und Sicherheitskräfte" aus.

Frankreichs Innenministerium will ebenfalls nichts von unzureichender Vorbereitung wissen. 3000 Hooligans sei der Pass entzogen worden, ebenso vielen Personen die Einreise verweigert worden, führte ein Sprecher beim Fernsehsender BFM TV aus.

"Wenn es ein Scheitern gibt, ist es ein Scheitern des Fußballs, der ganz klar zeigt, dass er noch an einem Teil seiner Fans krankt", hielt er fest: "Leider sind alle internationalen Turniere seit fast 30 Jahren von Zusammenstößen zwischen Fans besudelt." Was will man machen.