Patrice Evra ist inzwischen 35 Jahre alt. Er hat im Fußball alles erlebt und, zumindest auf Vereinsebene, auch schon alles gewonnen.
Für Frankreich zählt nur der Titel
© Getty Images/Imago/SPORT1-Grafik Paul Hänel
Am Freitagabend im EM-Eröffnungsspiel gegen Rumänien (ab 20.30 Uhr LIVE in unserem Sportradio SPORT1.fm und im LIVETICKER) muss sich Linksverteidiger Evra auf seine alten Tage aber auch noch einmal in Philipp Lahm verwandeln.
Der sorgte bei der Heim-WM 2006, damals ebenfalls noch als Linksverteidiger, mit seinem Distanzschuss gegen Costa Rica für die Initialzündung zu einem rauschhaften Fußballfest in Deutschland. Die Franzosen brauchen diesen Lahm-Moment, damit auch ihre EM zu dem werden kann, was sie sich erhoffen: Der Grundstein für die Rückkehr zu glorreichen Zeiten.
Nach all den Problemen, Debatten und Konflikten der letzten Wochen. Nach den schlimmen Anschlägen vom November. Jetzt soll endlich Fußball gespielt werden - und "Les Bleus" sollen dem Volk die Freude zurückbringen. Kleiner geht es nicht.
Eine Euphoriewelle muss her
"Durch die Siege im Fußball, müssen die Franzosen wieder Stolz gewinnen, nach den schlimmen Sachen, die passiert sind", sagt Frankreich-Experte Gernot Rohr am Vortag des Eröffnungsspiels im Gespräch mit SPORT1.
Es muss eine Euphoriewelle in Blau-Weiß-Rot her. Das Gegenstück zum "Schland-Fieber", wie es vor zehn Jahren in Deutschland ausgebrochen ist. Am Donnerstagabend, beim Eröffnungskonzert der EURO am Fuße des Eiffelturms, kam zum ersten Mal so etwas wie unbeschwerte Stimmung auf, als Star-DJ David Guetta vor 80.000 Besuchern seine Chart-Hits zelebrierte.
Der Auftakt ins Turnier wird für den weiteren Verlauf der kommenden vier Wochen elementar wichtig. "Seit zwei Jahren denke ich an diesen 10. Juni. Die Fans wollen uns siegen sehen, aber wir sind bereit", verkündete Nationaltrainer Didier Deschamps, 1998 beim WM-Triumph im eigenen Land Kapitän: "Wir müssen starten wie Rennpferde, die aus der Box kommen, und sofort zu 100 Prozent da sein."
Rohr schwärmt von der Offensive
Denn letztlich zählt für die Franzosen nur der Titel. "Favoriten!", titelte das größte Sportblatt L'Equipe am Donnerstag. Viele Experten sehen die Franzosen trotz der Konkurrenz durch Deutschland und Spanien als ersten Anwärter auf den Titel, auch Gernot Rohr.
"Man hat noch in Erinnerung, was 1998 passiert ist. Man hat wieder so gute Spieler, hat Stars, hat die Unterstützung der Öffentlichkeit. Bei den letzten Tests wurden immer mindestens drei Tore erzielt, da herrschte große Begeisterung", sagt er SPORT1. Vor allem die Offensive spreche für "Les Bleus". "Da sind sie sehr stark, haben auf allen vier offensiven Positionen zwei Spieler, die gleichwertig sind."
Und tatsächlich genügt der Angriff mit Leitfigur Antoine Griezmann, Olivier Giroud und den Jungstars Anthony Martial und Bayerns Kingsley Coman höheren Ansprüchen. Dazu kommt als Strippenzieher noch Paul Pogba, der zum Superstar der Veranstaltung werden soll.
Defensive ist das Sorgenkind
Doch genau bei ihm beginnen Frankreichs Probleme. Denn Pogba ist zwar herausragend begabt, mit seinen 23 Jahren aber immer noch zu ungestüm. Ob er eine Mannschaft wirklich schon zum Titel führen kann? Der 1998er-Weltmeister Marcel Desailly machte im Gespräch mit SPORT1 einen Mangel an Führungsspielern im Kader aus.
"Paul hat in den letzten Jahren viel an Reife gewonnen", lobte Kapitän Hugo Lloris zwar. Aber Pogba fehlt es in seinem Spiel noch an der Balance, die Absicherung nach hinten leidet zuweilen. Und gerade da sind die Franzosen nach den Ausfällen von Raphael Varane, Jeremy Mathieu, Mamadou Sakho und Lassana Diarra anfällig.
"Die Offensivstärke muss die defensive Schwäche überspielen", hofft Rohr, der auch französischer Staatsbürger ist. Womöglich kommt diese EM für die Franzosen aber einfach noch ein paar Jahre zu früh.
Philipp Lahm musste nach seinem Tor 2006 auch noch acht Jahre warten, bis er den WM-Pokal in die Nacht von Rio stemmen durfte.