Der Mann in Schwarz schaffte es gerade so, nicht sofort aufs Spielfeld zu rennen, die Füße schon auf der Seitenauslinie, sprang er zwei-, dreimal hoch, ruderte mit den Armen, schrie, zeigte an: "Schiri, mach endlich Schluss!" Sofort stimmte das Publikum, das eben noch euphorisiert-hypnotisch "Atleti! Atleti! Atleti!" skandiert hatte, ein gellendes Pfeifkonzert an.
Guardiolas Ideen greifen wieder nicht
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Doch der Schiedsrichter ignorierte Madrids Trainer. Es lief erst die 88. Minute.
Erst nach der Nachspielzeit durfte Atletico dieses 1:0 gegen den FC Bayern München im Hinspiel des Halbfinales der Champions League endgültig feiern.
Fahrlässig in der Anfangsphase
Zum dritten Mal droht Pep Guardiola mit Bayern das Aus im Halbfinale. Zum dritten Mal nach einer Niederlage in Spanien. Zum dritten Mal nach einem Spiel, in dem seine Ideen nicht griffen.
0:1 bei Real Madrid 2014, 0:3 in Barcelona 2015, 0:1 jetzt im Vicente Calderon. Peps Trauma-Triple in der alten Heimat.
Sicher, noch kann Guardiola den Halbfinalfluch abwenden, "es braucht nur ein Tor für die Verlängerung", sagte er, "wir haben am Dienstag eine neue Chance."
Die Leistung seiner Mannschaft in der zweiten Halbzeit macht ja Mut. So viele Torchancen dürfte sich bei Atleticos Defensivzauberern schon lange kein Gegner mehr herausgespielt haben, 20 Torschüsse hatte Bayern am Schluss. "Die zweite Halbzeit war Wahnsinn", sagte Guardiola.
Die ersten 15 Minuten auch - wahnsinnig fahrlässig.
Körperlos und überfordert
"Wir haben viel gesprochen über Atletico", sagte Guardiola. Aber was auch immer er seinen Spielern vorher erzählt haben mag, sie setzten es nicht um. Bayern wirkte fast überrascht, dass Simeones Mannschaft einfach nur das tat, wofür sie berüchtigt ist. Hatten sie das Viertelfinale Atleticos gegen Barcelona nicht gesehen?
Sie spielten fast körperlos, waren total überfordert mit den permanenten superaggressiven Vorstößen der Rojiblancos, verloren Zweikampf und Zweikampf, Ball um Ball.
Und dann: Erhielt Saul in der Nähe des Mittelkreises Ball. Und dann: Thiago! Juan Bernat! Xabi Alonso! Drei iberische Bayern als menschliche Slalomstangen. Dass schließlich noch Arturo Vidal und David Alaba ins Leere sprangen, machte das 1:0 nur noch toller. "Ein anthologisches Tor", schrieb Marca über das Husarenstück des 21-Jährigen.
"Das fantastische Tor von Saul war eine Konsequenz der ersten 15 Minuten, wir haben kein Duell gewonnen, haben es nicht gut gemacht", sagte Guardiola. Nicht zum ersten Mal.
Geschichte wiederholt sich
Hatte Juves Alvaro Morata im Achtelfinale nicht auch schon mal ein Wahnsinns-Solo hinlegen dürfen bei Juan Cuadrados Tor?
Hatte nicht auch Benfica Lissabon die Münchner im Viertelfinale schon an den Rand des Abgrunds getrieben?
Dreimal musste Bayern jetzt gegen hoch verteidigende und leidenschaftlich spielende Kontermannschaften spielen. Dreimal schienen sie zunächst wenig bis nichts mit ihren Gegnern anfangen zu können.
Ballbesitz ohne Kontrolle
Wo lange Bälle, Diagonalpässe, Flanken und Schüsse aus der Distanz angebracht gewesen wären, versuchten sie es auch am Mittwoch zunächst wieder auf ihre Art: Kurzpass hier, Schnörkel da, Tunnelversuch dort. Dass sich Atleticos Spieler aber nicht tunneln lassen, verstand Douglas Costa etwa bis zum Schluss nicht, nur indiskutable 33 Prozent seiner Pässe fanden das Ziel. Nicht viel besser sah es bei Kingsley Coman und Thiago aus. Juan Bernat blieb wieder den Beweis schuldig, dass er die Klasse hat für dieses Niveau.
Und so hatte Bayern zwar Ballbesitz, Atletico aber die Kontrolle über das Spiel.
Dass Guardiolas Spielplan hätte aufgehen können, deuteten die Spieler in der zweiten Halbzeit an. Als sie auch mal foulten, es mit langen Bällen versuchten und aus der Distanz schossen. Mindestens 90 Minuten bleiben ihnen jetzt noch, um das totale Halbfinal- und Konter-Trauma abzuwenden. Im Finale würde es gegen Mannschaften gehen, die Ballbesitz auch nicht so schlecht finden. Wenigstens das.