Ein wenig unangenehm war es Hakan Calhanoglu schon.
Ein bisschen wie Cristiano Ronaldo
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Der Mittelfeldspieler von Bayer Leverkusen schaute kurz zurück zu seinen Mitspielern. Drehte schließlich ab, blieb an der Torlinie urplötzlich stehen und riss die Hände nach unten, den Oberkörper dabei angespannt und den Mund weit aufgerissen.
Eine Jubelpose, die man so vor allem von Cristiano Ronaldo kennt. Und die so gar nicht zu Calhanoglu passt.
Die den Gemütszustand des 21-Jährigen aber wohl am besten umschreibt. Denn nach seinem entscheidenden Treffer zum 1:0-Sieg im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Atletico Madrid musste alles raus.
Mit einem Schuss weggewischt
Der ganze Frust der vergangenen Wochen. Der ganze Ballast, der auf seinen Schultern lastete. Die Kritik, die ihn manchmal zu erdrücken schien. Mit einem Schuss wie weggewischt.
"Beim Tor habe ich alles rausgelassen. Auch für mich war das Tor eine Befreiung", sagte Calhanoglu im ZDF. Und schob zur Sicherheit schnell noch hinterher: "Der Torjubel sah vielleicht aus wie der von Cristiano Ronaldo, aber die Ähnlichkeit ist nur ein Zufall."
Später in der Mixed Zone sah man wieder den "normalen" Hakan Calhanoglu. Schüchtern, zurückhaltend und dabei fast schon flüsternd sprach er über den so wichtigen Sieg gegen den spanischen Meister, den Vorjahresfinalisten. Der nicht nur für Calhanoglu, sondern auch für Bayer ein Befreiungsschlag war.
"Wir haben von Anfang an eine sehr gute Leistung abgerufen und das Spiel auch dominiert. Wir haben gezeigt, dass wir gegen eine sehr gute Mannschaft sehr gut spielen können. Wir haben öfter bewiesen, dass wir auf hohem Niveau spielen können. Von daher gibt es sicher noch einiges zu sehen von uns", sagte er.
Ungern im Mittelpunkt
Er sprach nicht mehr von sich selbst. Das macht er sowieso ungern, denn Calhanoglu ist nicht der Typ, der im Mittelpunkt stehen will. Der es aber aufgrund seiner Spielweise, seiner Aufgabe bei Bayer und nicht zuletzt wegen seiner Ablöse von 15 Millionen Euro automatisch ständig tut. Und vielleicht auch ein bisschen aufgrund seiner Naivität.
Denn das aufsehenerregende Interview im Sportstudio im vergangenen Oktober, als er über angebliche Wortbrüche des ehemaligen HSV-Sportchefs Oliver Kreuzer und Todesdrohungen bei der türkischen Nationalmannschaft redete, lief ihm lange hinterher. Nach der Pistolen-Affäre um Gökhan Töre und seinen Leverkusener Teamkollegen Ömer Toprak hatte Nationaltrainer Fatih Terim das Duo nicht mehr nominiert.
"Nationalmannschaft ist mein Ziel"
Vielleicht beflügelte ihn deshalb auch der Besuch Terims, mit dem er sich nach dem Spiel zu einem Friedensgespräch traf. Um die Missverständnisse auszuräumen. Und die Zukunft zu besprechen. Calhanoglu stellte nochmals klar: "Ich hoffe, dass ich wieder für die Nationalmannschaft spielen kann. Das ist mein Ziel."
Was bedeutet, dass ihn die vergangenen Monate also die ganze Zeit zusätzlich belastet haben dürften. Wie Bayer auch. Denn die Werkself ist in erheblichem Maße von der Form ihres Ideengebers abhängig. Und da hakte es gerade zum Rückrundenbeginn mit nur fünf Punkten aus fünf Spielen gewaltig.
Ein Abend der Befreiungsschläge also. Für Calhanoglu, für Bayer und auch für Bernd Leno. Der U-21-Nationaltorhüter hatte zuletzt ungewohnte Unsicherheiten gezeigt, sich einige Wackler erlaubt. Gegen Atletico war er es, der Bayer mit einigen Weltklasse-Paraden überhaupt im Spiel hielt.
Bernd Leno genießt
Auch ihm war die Genugtuung anzusehen. "Für mich war es wichtig, dass ich zu meiner Leistung zurückfinde. Mir tut es ganz gut, den einen oder anderen Ball gehalten und zu Null gespielt zu haben. Ich genieße das wie die gesamte Mannschaft", sagte Leno bei SPORT1.
Belastet haben ihn die jüngsten Fehler nicht, wie er erklärte. "Man denkt natürlich darüber nach. Aber ich bin noch sehr jung und versuche, das Positive daraus zu ziehen. Außerdem bin ich in einer Phase, in der ich mein Spiel verfeinere, offensiver gestalte. Ich werde jetzt garantiert nicht zurückrudern, sondern werde mein Spiel so weiterführen", versprach Leno.
"Uns fehlt die Konstanz"
Das Selbstbewusstsein ist also zurück, gerade rechtzeitig zu den im Vorfeld oft deklarierten Wochen der Wahrheit. Auch wenn Leno von einem Türöffner für die anstehenden Aufgaben nichts hören will.
"Das ist die Kunst, die uns noch ein wenig fehlt: die Konstanz. Wir haben Phasen im Spiel, in denen es nicht läuft. Die sind zu oft, zu viel und in den Spielen auch zu lang. So haben wir immer Punkte verschenkt. Deswegen muss es unser Ziel sein, mehr Konstanz zu bekommen", sagte der Schlussmann.
Ex-Nationaltorhüter Oliver Kahn, inzwischen TV-Experte beim ZDF, hatte ihm nach dem Spiel eine Weltklasse-Leistung attestiert. Als SPORT1 ihn darauf ansprach, war der Stolz nicht zu übersehen.
"Wenn Oliver Kahn das sagt, dann freut mich das natürlich. Wenn er das sagt, dann muss etwas dran sein, weil er ein Weltklasse-Torwart war und eine Legende ist", sagte Leno. Und lächelte.
Ein wenig unangenehm war es ihm schon.