Die Szenen nach dem 100-Meter-Finale der Männer bei der Leichtathletik-WM erweckten nicht gerade den Eindruck, als hätte der größte Superstar des Sports seine bitterste Niederlage kassiert - und sein ärgster Konkurrent seinen größten Moment erlebt.
Entzauberung mit Nachgeschmack
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Usain Bolt präsentierte seine berühmte Blitz-Pose, kniete auf der Ziellinie nieder und küsste sie, lief eine Ehrenrunde und genoss das Bad in der Fan-Menge, die ihren Helden mit lauten Sprechchören feierte.
Justin Gatlin dagegen blieb wieder einmal nur eine Nebenrolle, er verneigte sich sogar vor seinem jamaikanischen Rivalen. Nur die Buhrufe, die der US-Amerikaner mal wieder über sich ergehen lassen musste, waren lauter als sonst.
Gatlin als Partycrasher
Der Grund: Gatlin hatte kurz zuvor Bolt in dessen letztem Einzellauf der Karriere entthront. 9,95 Sekunden waren zwar Bolts Saisonbestleistung, reichten hinter Gatlin (9,92) und dem zweiten US-Amerikaner Christian Coleman (9,94) im zweitlangsamsten Finale der letzten zwanzig Jahre aber nur zu Rang drei.
Dadurch, dass er es gewagt hatte, dem charismatischen Bolt das perfekte Finale zu zerstören und den Partycrasher zu geben, wurde der Bad Boy für viele endgültig zum meistgehassten Leichtathleten der Welt.
"Der 'böse Gatlin' besiegt den legendären Bolt. Es hätten die letzten 100 Meter zum Paradies sein können, doch Bolt hat auf seinem Weg den Teufel getroffen", schrieb etwa der Corriere della Sera aus Italien. Gatlin vergifte Bolts Abschied, meinte die spanische ABC. Und der Telegraph aus England sprach gar von einer "Peinlichkeit für die Leichtathletik." Selbst IAAF-Boss Sebastian Coe bedauerte das Ergebnis.
Bolt verteidigt Gatlin
Und Bolt? "Er hat es verdient", sagte der 30-Jährige – und meinte damit die Goldmedaille. "Ich habe alles gegeben, was ich hatte. Ich denke, ich habe gegen einen großartigen Wettkämpfer verloren. Er hat hart gearbeitet, und er ist einer der besten Konkurrenten, gegen die ich je gelaufen bin." Gatlin erklärte: "Er hat mir gesagt, dass ich es nicht verdient habe, so behandelt zu werden." Bolt zeigte Größe.
Der Unmut des Londoner Publikums über den mit 35 Jahren ältesten Champion über die Königsdistanz war aber nachvollziehbar. 2001 war Gatlin als Junior erstmals gedopt erwischt worden, aus zunächst zwei Jahren Sperre wurden zwölf Monate. 2004 wurde er Olympiasieger, 2005 Doppel-Weltmeister - und 2006 erneut positiv getestet.
Lebenslang hätte Gatlin gesperrt werden müssen, kam mit acht Jahren davon, weil er halbherzig als Kronzeuge gegen Coach Trevor Graham auftrat. Doch auch gegen dieses Strafmaß ging Gatlin vor - 2010 durfte er wieder laufen.
"Mehr Biersorten auf dem Oktoberfest"
"Ich habe gebüßt, für meine Fehler soziale Arbeit geleistet", sagte Gatlin. Doch die Zweifel der Fans bleiben. Als vermeintlich sauberer Athlet lief er teilweise schneller als in nachweislichen Doping-Zeiten.
Er ist der Widersacher Bolts, des größten Sympathieträgers - der allerdings wegen seiner einstigen Fabelleistungen und dem schlechten Ruf der jamaikanischen Dopingjäger und seiner Sportart an sich selbst vielfach angezweifelt wird - aber anders als Gatlin eben nie ins Netz geraten ist. Und vom Londoner Publikum deswegen eben in der Heldenrolle verabschiedet wurde.
Elf WM-Titel hatte Bolt bis dahin gewonnen, acht Mal wurde er Olympiasieger. Mit seinem vierten WM-Gold über 100 m wollte sich König Bolt eigentlich ungeschlagen in die Sprint-Rente verabschieden - es hat nicht sollen sein.
Sein Start war wieder einmal miserabel, im Schlussspurt fehlte ihm die Power. Bolt wirkte plötzlich menschlich. Ein letzter Start in der 4x100-Meter Staffel wartet noch, auf seine einstige Lieblingsstrecke 200 m verzichtet er. "Ich habe für den Sport alles getan, was ich konnte. Ich habe bewiesen, dass ich einer der Größten bin. Es ist Zeit zu gehen."
Zukunftspläne hat er längst. Reisen. Kinder, "ganz sicher". Und auf dem Oktoberfest in München endlich "mehr Biersorten auszuprobieren".