In der Niederlage zeigt sich wahre Größe, wird behauptet. An einem Abend im Mai saß Thomas Tuchel gebeugt auf einem Podium im Bauch des Berliner Olympiastadions. Erst gestattete er seiner Mannschaft noch ein paar warme Worte, kam dann aber schnell zum eigentlichen Punkt seiner Ausführungen.
Reifeprüfung für Guardiolas Meisterschüler
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Borussia Dortmund hatte gerade das DFB-Pokalfinale gegen den FC Bayern München verloren. Es war die vierte Niederlage in Serie für den BVB in einem großen Finale und Tuchels erste. Es wurde diskutiert über die verschossenen Elfmeter der Borussia und den überaus berechtigten, aber nicht geahndeten Platzverweis für Franck Ribery.
Aber Tuchel hatte keine Lust auf Ausreden. Er wurde streng in seinen Worten, als er über die Fehler seiner Mannschaft und seine eigenen räsonierte. Handlungsschnelligkeit, Wachheit, Überzeugung, Ausstrahlung, Schärfe, Mut, Selbstvertrauen hätten seiner Mannschaft gefehlt, die Bayern waren doch so verwundbar an diesem Abend. Er habe bei der Wahl der Elfmeterschützen kein gutes Gespür für die Situation gehabt, auch deshalb ging das Spiel verloren.
Höchste Niederlage gegen die Bayern
Dortmund-Trainer Tuchel und die Bayern bilden eine ganz besondere Geschichte ab. Einst war er als Trainer-Neuling in Mainz mit einem Startrekord und einem 2:1-Sieg in München gegen Louis van Gaal ins Bewusstsein der deutschen Fußball-Fans gestürmt. Aber mit dem BVB, gegen die Bayern?
Vor etwas mehr als einem Jahr reiste er mit Dortmund nach München zum ersten Aufeinandertreffen mit einer großen Mannschaft gegen den Branchenriesen. Die Premiere gegen seinen Bruder im Geiste Pep Guardiola verlor Tuchel mit 1:5. Es war die höchste Niederlage, die er als Trainer einer Profimannschaft einstecken musste. Selbst in Mainz kassierte Tuchel nie fünf Gegentore in einem Spiel.
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Das Rückspiel in Dortmund hätte nochmal für so etwas wie Belebung in der Meisterfrage sorgen können. Der BVB spielte viel besser als in München, fast am Limit, hatte viel Ballbesitz und konnte den Bayern deshalb auch weh tun. Aber das Remis war zu wenig, es fehlte die letzte Entschlossenheit im Abschluss und ein wenig Glück.
Mit Guardiola auf Augenhöhe
Und trotzdem war das Spiel für Tuchel auch so etwas wie ein kleiner Sieg. Er und Guardiola waren sich auf Augenhöhe begegnet, in der Spielvorbereitung, der Gegneranalyse, im In-Game-Coaching waren kaum noch Unterscheide zu erkennen zwischen dem Lehrling und dem Meister. Und so blieb das auch im Pokalfinale von Berlin.
"Thomas ist einer der besten Trainer der Welt. Er hat diese Leidenschaft, alles wissen zu wollen. Er macht sich 24 Stunden am Tag Gedanken um seine Mannschaft, den Gegner, den Fußball generell", hat Guardiola ihn gelobt, von Asket zu Asket. "Wir denken Fußball ähnlich, wir haben dieselbe Leidenschaft für das Spiel."
Jetzt ist Guardiola nicht mehr da und Tuchel hat einen neuen Gegner, dessen Mannschaft es zu besiegen gilt. Carlo Ancelotti ist anders als Guardiola, über ihn hat Tuchel ganz sicher auch schön wohlfeile Sätze formuliert, aber eben nicht solche. "Jedes Treffen mit ihm ist immer eine Inspiration. Er ist einer, der dich dazu bringt, deine Haltung zu straffen, dir Höchstleistungen abzuverlangen. Das Messen mit den Besten macht dich selbst besser." Die Rede war von Guardiola.
Zeit für einen Konterpunkt
Ancelotti wird mit den Bayern im Signal Iduna Park ziemlich sicher einen anderen Stil pflegen, als es Guardiola tat. Nicht so dogmatisch, vielmehr pragmatisch und sehr ergebnisorientiert. Dass die Bayern damit noch ein paar Schwierigkeiten haben, hat die Vorrunde bisher gezeigt. Auf allerhöchstem Niveau gilt es zu jammern, dass "schon" vier von 16 Pflichtspielen nicht gewonnen wurden.
Dass in diesen Spielen die Gegner mit völlig unterschiedlichen handwerklichen Herangehensweisen punkten oder sogar siegen konnten, sollte Tuchel genügend Angriffsfläche bieten, um nicht auch bei Ancelotti eine kleine Serie einreißen zu lassen. Gegen ihn hat er auch schon verloren, allerdings nur im Supercup. Und der ist zu vernachlässigen. Der ungünstige Spieltermin, die vielen Spieler mit wenigen Trainingseinheiten und der fehlende Spielrhythmus schließen eine ernsthafte Beurteilung aus.
Jetzt ist die Zeit, einen Konterpunkt zu setzen. Das Bayern-Flüchle, um in Tuchels schwäbischem Kontext zu bleiben, zu beenden. Die Bayern sind so verwundbar wie im Mai, Tuchel und sein Trainerteam haben genug Erfahrungen im Umgang mit dem Rekordmeister gesammelt. Ein Sieg gegen den Meister würde die zu erwartenden Debatten um einen Tuchel-Komplex gegen den Rekordmeister sofort im Keim ersticken.
Und er könnte der Liga endlich wieder geben, was sie so lange vermisst hat: Spannung an der Tabellenspitze. Dass ausgerechnet der BVB dann Leipzig zum möglichen Tabellenführer macht, wäre aus Dortmunder Sicht ein sicherlich zu verschmerzender Kollateralschaden.